WIEN/BOZEN – Die Diskussion um die Finanzierung des Tiroler Heims in Wien, eine Direktverbindung Wien-Bozen anlässlich des 150. Jubiläums der Brennerbahn oder Dauerbrenner Doppelte Staatsbürgerschaft für Südtiroler – letzthin häufen sich die Kontakte und Anknüpfungspunkte zwischen der Bundeshauptstadt Wien und dem vor fast 100 Jahren abgetrennten Südtirol. Eine Verbindung, die über Jahrhunderte Bestand hatte und nicht nur von einseitigem Nutzen war, wie der Südtiroler Schützenbund in einer Presseaussendung aufzeigt. Der Landeskommandant des Südtiroler Schützenbundes Elmar Thaler fordert die Verantwortlichen dazu auf, diese Kontakte wieder aufleben zu lassen.
Vor nunmehr fast 100 Jahren war der I. Weltkrieg zu Ende. Für die Reichshaupt- und Residenzstadt Wien bedeutete das, dass sie sich plötzlich aus dem Zentrum eines alten 53 Mio. Reiches an den Rand einer jungen Republik mit gerade einmal 6,5 Mio. Einwohnern verschoben sah. Nachdem trotz Krieg und nationalem Furor lange Zeit niemand ernsthaft glauben konnte, dass sich das Habsburgerreich nach fast 650 Jahren einfach auflösen würde, war man denkbar schlecht vorbereitet. Wien war zur damaligen Zeit − mit ca. 2 Millionen Einwohnern − die sechstgrößte Stadt der Welt und plötzlich abgeschnitten von den Kornkammern der Doppelmonarchie in Galizien, der Bukowina und Ungarn. Die Folge war – schrecklicher Hunger.
Eine Untersuchung amerikanischer Ärzte ergab, dass von 186.617 Kindern 52 % sehr unterernährt, 34 % unterernährt, 10,5 % minder unterernährt und nur 3,6 % nicht unterernährt waren. Rund 2000 Kinder waren zur Zeit der Untersuchung auswärts oder krank. Südtirol war zu dieser Zeit nicht mit Reichtum gesegnet und hatte selbst gerade das schmerzliche Schicksal der Abtrennung vom Vaterland erlitten, aber Hunger litt man, zumindest auf dem Land, nicht. So war Südtirol dabei, als man mit der „Aktion Wiener Kinder“ diese für einige Monate in besser versorgten europäischen Regionen unterzubringen versuchte, damit sie dort wieder zu Kräften kommen konnten. 600 bis 1000 Kinder sollen es gewesen sein, die 1920/21 von Südtiroler Familien aufgenommen wurden.
Luise Mock-Tiefenthaler in Montan erzählt, dass ihre Familie eine Steffi aus Wien aufgenommen hatte. Das Mädchen wurde von allen ins Herz geschlossen. Lange Zeit blieb man noch brieflich in Verbindung. Bei der Familie Schraffl im Unterdorf kam eine Resi unter. „Der Schuster Josef Franzelin nahm einen Buben auf, Josef Klement mit Namen. Franzelin wollte den Buben gar nicht mehr hergeben, als die Zeit kam, dass er heimreisen hätte sollen. Die Gemeinde musste ein Machtwort sprechen“, schreibt ein Chronist aus dem Unterland, und eine Zeitung berichtet aus Bruneck:
„Die Wiener Kinder, welche Samstag am 3. Jänner hier eingetroffen sind, haben letzten Montag wieder Bruneck verlassen. Viele derselben machten noch tags vorher mit ihren Pflegeeltern einen Ausflug in die Umgebung. Am Montag wurden sie von denselben, reichlich mit Kleidern, Wäsche und Nahrungsmitteln beschenkt, vom Kopf bis Fuß neu eingekleidet zum Bahnhof begleitet. […] Nun hieß es „Einsteigen“. In rührender Weise mit Tränen in den Augen, nahmen die Kinder von ihren Pflegeeltern mit Worten des Dankes Abschied und stiegen, das Gepäck nicht aus der Hand lassend, ein. Als sich der Zug in Bewegung setzte, winkten die vielen Kleinen mit Händen und Tüchern, Abschiedsgrüße hinausrufend und nahmen so nochmals Abschied.“
Georg Florian Grabenweger, der heute in Wien lebt und Südtiroler Wurzeln hat, fiel schon zu Anfang seines Studiums in Wien auf, dass die Wiener ein ausgesprochen warmherziges Verhältnis zu den Südtirolern haben. Immer wieder erstaunte ihn, dass auch politische Kräfte, die sonst nicht für Traditionsverbundenheit bekannt sind, beim politisch heiklen Thema Südtirol ungewohnt stark auf der Verbindung der Donaustadt zu den Tirolern jenseits des Brenners pochen.
Nach einem Tiroler Ball, der heute noch traditionell im Rathaus stattfindet, erwähnte der ehemalige Dompropst von St. Stephan bei der Andreas-Hofer-Messe eben jene Geschichte der Wiener Kinder in Südtirol. Noch in seinen Jugendtagen hätten die Zeitzeugen voller Dankbarkeit und Zuneigung von ihrer Zeit im schönen Südtirol erzählt, wie die bittere Not von Menschen gelindert wurde, die selber in der Verbannung waren. Wohl ist es nur ein Teil der gemeinsamen Geschichte Südtirols mit Wien, aber er zeigt, wie kleine Gesten der Menschlichkeit und des Zusammenhalts auch nach 100 Jahren noch große Wirkung haben.
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs beteiligte sich Südtirol an der „Aktion Wiener Kinder“. 600 bis 1000 Wiener Kinder sollen es gewesen sein, die 1920/21 von Südtirolern aufgenommen wurden um sie vor Hunger und Unterernährung zu retten. Im Bild Steffi aus Wien (ganz rechts) mit ihrer Montaner Gastgeberfamilie Tiefenthaler. Foto: © Montaner Dorfbuch