EDINBURGH – Schottland steht am Beginn einer neuen Zeitrechnung. Sollte die Bevölkerung nächstes Jahr für ein unabhängiges Schottland stimmen, werden die Uhren auf „Null“ gestellt und ein neues Kapitel in der Geschichte Schottlands wird aufgeschlagen. Laut verschiedenster Meinungen und Fakten hat Schottland alle Möglichkeiten, ein fairer, nachhaltiger und wohlhabender Staat zu werden.
Die schottischen Ressourcen, die Fähigkeiten der Menschen, die Erfahrungen des Parlaments etc. könnten den Weg in eine glorreiche Zukunft ebnen. Absolute Entscheidungsbefugnis und vollkommene Verwaltungshoheit würden es den schottischen Volksvertretern erlauben, ganz im Interesse der eigenen Bevölkerung zu handeln. Es hängt allein von der Bevölkerung Schottlands ab, ob sie die Chance zur Unabhängigkeit nutzt oder nicht. Diese Unabhängigkeit bedeutet aber gleichzeitig auch, Verantwortung zu übernehmen, in vielen Dingen auf sich allein gestellt zu sein. Gewohntes wird gegen Neues eingetauscht – mit allen Vor- und Nachteilen. Es versteht sich von selbst, dass es kein Spaziergang werden wird, einen neuen Staat zu schaffen.
Komplexe und schwere Entscheidungen müssen getroffen werden. Viele Verhandlungen werden folgen. Es werden Hindernisse auftreten, die es aus dem Weg zu schaffen gilt. Es ist sicherlich einfacher, den Status quo beizubehalten, anstatt das Risiko der Unsicherheit und Instabilität auf sich zu nehmen. Werden die Schotten den notwendigen Mut zur Veränderung aufbringen und über ausreichendes Selbstvertrauen verfügen, um einen eigenen Staat zu bauen? Sie müssten dazu den Schritt aus der „Komfortzone“ wagen und sich von Großbritannien abnabeln. Das wollen nicht alle. Niemand leugnet, dass noch viele Fragen offen sind wie etwa jene nach der künftigen Währung oder der zukünftigen Beziehungen zu anderen Staaten. Kein Mensch kann die Folgen einer schottischen Unabhängigkeit vorhersehen und gewisse Resultate garantieren. Die Welt verändert sich schnell. Es bestehen aber kaum Zweifel daran, dass Schottland ein erfolgreicher, unabhängiger Staat sein könnte. Sofern die Schotten die Unabhängigkeit wollen, müssen sie auch eventuelle Fehlentwicklungen oder Fehlentscheidungen in Kauf nehmen und damit leben. Möglicherweise akzeptiert die schottische Bevölkerung die eigenen Fehlentscheidungen eher als jene, die in London getroffen werden. Darüber hinaus ist es nicht so, als sei die Politik des Vereinigten Königreichs immer perfekt und garantiere vollkommene Sicherheit in allen Fragen.
In meiner Zeit vor Ort, im Brennpunkt des Geschehens, ist mir klar geworden, dass Menschen grundsätzlich keine großen Änderungen wünschen, weil diese stets mit Unsicherheit verbunden sind. Viele Bürgerinnen und Bürger fürchten die Ungewissheit. Zudem spielt bei dieser Entscheidung für viele Schotten die Sorge um die eigene Existenz eine wichtigere Rolle als rein politische Überlegungen. Viele Schotten sind noch unentschlossen und nicht informiert. Die Medien beeinflussen den Meinungsbildungsprozess der Bevölkerung wesentlich. Die Fronten zwischen Unabhängigkeitsbefürwortern- und Gegnern haben sich verhärtet. Es scheint, als fiele es der „bettertogether“ – Seite leichter, den Draht zu den Menschen zu finden und diese zu überzeugen. Neben der Betonung einiger positiver Aspekte, welche eine Union mit Großbritannien mit sich bringt, konzentrieren sich die Unabhängigkeitsgegner vor allem darauf, hervorzuheben, warum es denn keine gute Idee sei, ein eigenständiger Staat zu werden. Den Bürgern werden alle möglichen, negativen Folgen und Szenarien einer Unabhängigkeit erläutert. Diese negativen Botschaften setzen sich in den Köpfen der Menschen fest. Es ist legitim, so vorzugehen und wichtige sowie auch unpopuläre Fragen zu stellen, aber es veranlasst natürlich viele Menschen dazu, mit „Nein“ zu stimmen. Zweifel werden geweckt. Die Unabhängigkeitsbefürworter haben noch viel Arbeit vor sich, wollen sie ein Votum in ihrem Interesse erreichen, aber die Zeit spielt klar gegen sie. Man kann in dieser Frage nicht von der Mehrheit im Parlament auf die Mehrheit in der Bevölkerung schließen. Die „Yes“ – Seite scheint jedoch gut organisiert und vernetzt zu sein, trotzdem wird es nicht einfach werden. „Yes Scotland“ präsentiert Fakten, versucht, Emotionen und Optimismus zu wecken. Ob das jedoch ausreichen wird, werden wir erst nächstes Jahr sehen. Zum jetzigen Zeitpunkt kann noch niemand sagen, wie Schottland abstimmen wird. Das „Scottish Government White Paper“, die „Commonwealth Games“ 2014 in Glasgow und das 700 Jahrjubiläum der „Battle of Bannockburn“ von 1314 könnten noch für ausreichend Spannung und ein knappes Ergebnis sorgen.
Zum Schluss möchte ich die Gelegenheit nutzen, um der schottischen Bevölkerung einen friedlichen und fairen Wahlkampf zu wünschen. Es gilt, zu hoffen, dass die Debatte die Bevölkerung nicht allzu sehr in zwei Lager spaltet. Alle Bürgerinnen und Bürger Schottlands sind Schotten und sicherlich ist keiner besser oder schlechter, weil er mit „Ja“ oder „Nein“ stimmt. Die Entscheidung, wie auch immer sie ausfallen möge, muss akzeptiert werden, weil sie die Entscheidung der Mehrheit darstellt. Die Bevölkerung wird jene Entscheidung treffen, von der sie denkt, sie sei die beste für Schottland. Schlussendlich wollen alle Schotten das Beste für sich, ihre Familien und ihr Land. In diesem Sinne bin ich optimistisch, da die schottische Bevölkerung bereits darin geübt ist, zukunftsträchtige Referenden auszutragen und mit den Entscheidungen und Folgen dieser zu leben. Es wäre außerdem schön, einen objektiven, auf Fakten basierenden und frei von Vorurteilen geführten Wahlkampf zu erleben. Es geht um eine viel zu wichtige und richtungsweisende Entscheidung für Schottland, um das Feld Populisten, leeren Versprechungen, abschreckenden Geschichten und Spekulationen zu überlassen. Darüber hinaus wäre es wünschenswert, wenn die Entscheidung über die Unabhängigkeit nicht auf Parteien oder gar nur auf gewisse Politiker reduziert würde.
Ein Unterstützer der Unabhängigkeit sagte mir, wenn dieses Mal die Unabhängigkeit nicht erreicht würde, dann sei es das gewesen mit der Freiheit. Großbritannien werde den Schotten sicherlich nicht immer wieder die Möglichkeit geben, über die eigene Zukunft zu entscheiden. Nicht alle Schotten sehen das so, doch sind sich alle darin einig, dass die Entscheidung von fundamentaler Bedeutung sein wird.
Ich wünsche Schottland, diesem wunderschönen und einzigartigen Land, mit seiner berührenden Natur, reich an Kultur, Traditionen und Geschichte und dessen herzlicher und liebevoller Bevölkerung alles erdenklich Gute! Es war mir eine besondere Ehre und Freude, dieses Land ein wenig näher kennen gelernt zu haben. Ich habe ein unvergessliches Praktikum beim schottischen Parlament absolviert und durfte die Schotten wenige Meter auf ihrem Weg zu der richtungsweisenden Entscheidung begleiten. Ich habe in meinen Beiträgen versucht, meinen Landsleuten einen leichten Hauch von diesem Schottland zu übermitteln und einige wesentliche Themen (Geschichte, SNP, Kampagnen, etc.) übersichtlich aufzubereiten. Ich hoffe, der Versuch ist mir einigermaßen geglückt und Sie, liebe Leserinnen und Leser, hatten etwas Freude beim Lesen meiner Zeilen.
Schottland, wir sehen uns am 18. September 2014 wieder, das verspreche ich! Glück auf!