Festvortrag der Landeskommandanten am 13. Juli 2013 in Vahrn
Sehr geehrte Herrn Bürgermeister, liebe Festgäste!
Es ist freilich eine Ehre – besonders für Landeskommandanten – zu einem so erfreulichen Anlass sprechen zu können. Weil das Ereignis – die offizielle Anerkennung der Partnerschaft zwischen den Gemeinden Vahrn und Mils, eine Partnerschaft, die auf das Tiroler Gedenkjahr 1984 zurückgeht und vor kurzem durch Gemeinderatsbeschlüsse besiegelt wurde – ein Ereignis ist, das viel zu selten vorkommt. Nicht zuletzt ist diese Partnerschaft ein Ergebnis der Zusammenarbeit zweier Schützenkompanien und besonders ihrer Führungskräfte, der in den folgenden Jahren auch andere Vereine und schließlich auch die offiziellen Vertreter der beiden Gemeinden gefolgt sind.
Und wenn wir heute zu dieser grenzüberschreitenden und gesamttirolischen Partnerschaft etwas sagen sollen, dann machen wir das in der Hoffnung, ein bisschen von dem an Erfahrung weitergeben zu können, was unsere Schützenbünde in den vergangenen Jahren beobachten, aber auch selber erleben und erleiden konnten.
Grenzüberschreitend oder gesamttirolisch?
Da stellt sich auch schon die erste Frage. Ist denn diese Partnerschaft grenzüberschreitend oder gesamttirolisch? Grenzüberschreitend setzt eine Grenze voraus. Alle sprechen davon, dass die Grenze unsichtbar ist, dass sie kaum wahrnehmbar ist. Dann wäre der heutige Schritt wohl eher gesamttirolisch, ein bewusster Schritt auf dem Weg des Wiederzusammenwachsens.
Die schlechte Nachricht:
Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Grenze aber sehr wohl da und fühlbar ist.
Zum Beispiel in den Köpfen älterer Menschen. Menschen, die die Zeiten der Option erlebt haben. Oft ist das Gefühl eine Reaktion auf Erlebnisse, als Südtiroler sich zur Flucht entschieden hatten und in Nordtirol auf Höfen einquartiert worden sind, aus denen gerade von den Behörden die bisherigen Pächter gekündigt und ausgesiedelt worden sind oder für sie eiligst Wohnungen und ganze Siedlungen gebaut wurden, von denen Ortsansässige nur träumen konnten.
Wir sehen die Grenze in den Köpfen der Menschen mittleren Alters und der Jugend, weil viele Nord- und Osttiroler neidvoll in den Süden blicken, wo „ihr“ Geld dem kleinen Bruder im südlich des Brenners und westlich von Arnbach einen unerwarteten wirtschaftlichen Aufschwung ermöglicht hat, während andere sich nach 3 Generationen der Trennung an die Grenze, aber besonders an die Trennung selbst gewöhnt und sich mit ihr arrangiert haben. Sich so weit arrangiert haben, dass sie in der TT gedankenlos vom Trainingslager von „Wacker Innsbruck“ in „Alto Adige“ schreiben, Staumeldungen in Schönberg im ORF auf der Richtungsfahrbahn nach „Italien“ ankündigen oder gar bei der sogenannten „heimlichen“ Landeshymne „Gott sei Dank“ schreien, obwohl es ihre Groß- und Urgroßväter waren, die unter unmenschlichen Bedingungen versucht haben, genau diese Abtrennung zu verhindern.
Umgekehrt auch in Südtirol. Viel zu oft wird in der größeren Tageszeitung aus dem Bundesland Tirol nur berichtet, wenn es einen schweren Unfall, einen Mord oder ein Unwetterkatastrophe gegeben hat. Es wird kaum über Tagespolitik und schon gar nicht über das gesellschaftliche Tagesgeschehen jenseits des Brenners berichtet. Und in der kleineren Tageszeitung kommen Nord- und Osttirol schon gar nicht vor. Grad letzte Woche war ich in Leipzig bei den Berufsweltmeisterschaften, und ein Südtiroler Juror, ein Berufskollege von mir, ist völlig fertig an mich herangetreten und hat mir geklagt, dass es für ihn absolut unverständlich sei, dass traurigerweise im Kreise der Juroren immer „die Esterreicher“ für unser Team die schlechtesten Bewertungen geben. Mir ist es auf der Zunge gelegen, ihm zu antworten: Hast du vielleicht in den vergangenen Jahren einmal außerhalb des Bewerbs mit ihnen gesprochen? Die Zusammenarbeit gesucht? Ich hab’s dann doch für mich behalten, auch weil ich die Antwort eh schon gewusst habe: Sie hätte ehrlicherweise „Nein“ gelautet.
Die Menschen in Nord und Süd sind es, die immer dann, wenn sie sich nicht gerade stark auf das Gemeinsame konzentrieren, an die mittlerweile gewohnten Strukturen denken: an das, was gerade in Innsbruck oder Wien geschieht, bzw. an das, was in Bozen beschlossen, oder gar in Rom an Hiobsbotschaften produziert wird. Die Menschen in Nord und Süd sind es aber auch, die Bemühungen zu einer verstärkten Zusammenarbeit der Landesteile als veraltetes Denken oder gar als neue Form des Revanchismus sehen.
Die Grenze ist da und wir begegnen ihr an 1000 Orten.
Was für viele Österreicher im eigenen Landesteil durchaus strafwürdig ist, stellt für sie im anderen Landesteil kein Problem dar. Wie sonst ist es zu erklären, dass faschistische Denkmäler nicht einmal für jene ein Problem bedeuten, die in Österreich zu Recht die Umbenennung von Straßen und die Neuorganisation von Gedenkfeiern fordern.
Die Grenze ist auch da, wenn es um Sport geht, wenn es darum geht, die Milch von einem Tal ins nächste zu transportieren, die Grenze ist da, wenn es darum geht, Windräder genau dort und nur dort zu errichten, den längst fälligen Zusammenschluss der Energieversorgungsnetze am Brenner und in Arnbach zu realisieren , die eigene Schutzmarke zu schützen, das entscheidende Alleinstellungsmerkmal am Markt für sich allein zu reklamieren, wenn es darum geht, der Bessere zu sein bei öffentlichen Einrichtungen und allem, was dem eigenen Ego zuträglich ist.
Aber wir haben auch eine viel bessere Nachricht:
Wir beide haben gelernt, dass es, soll eine Partnerschaft grundsätzlich gelingen, schon von Anfang an um Nuancen geht. Jener, der in Mils wohnt, den kann es mindestens in gleichem Maße stören, wenn man zu ihm sagt „Es Estereicher“, wie wenn man einem Vahrner mitteilt, dass man heute zu ihm nach Italien kommt. Für den Südtiroler, der an der Rezeption in einem Nordtiroler Hotel eincheckt und als Italiener bezeichnet wird, kann der Urlaub gleich ärgerlich beginnen, wie für einen Nordtiroler, der bei seinem Südtirolurlaub dauernd auf Hochdeutsch angesprochen wird – als würde er aus Preußen stammen.
Auch wenn letzteres nur darauf zurückzuführen ist, dass ein Südtiroler glaubt, in einer Welt aufgewachsen zu sein, in der ihn außer seinesgleichen niemand versteht, und für den gedankenlosen Nordtiroler Hotelier ein italienischer Personalausweis, die Identitätskarte, halt das Zeichen für einen vermeintlichen Italiener ist, so sind dies, wenn sie unausgesprochen bleiben, eben Probleme, die einer Freundschaft wenigstens im Unterbewusstsein im Weg stehen. Und ganz besonders eigenartig: Wie geht’s denn dem Osttiroler, der in dieses Konzept Nord- bzw. Südtirol überhaupt nicht hineinpasst?
Was würde also dafür sprechen, dass wir diese nachweislich vorhandene Grenze, die in verschiedenen Bereichen besteht, überwinden und den Begriff „grenzüberschreitend“ durch den Begriff „gesamttirolisch“ ersetzen?
Die Voraussetzungen sind dieselben. Hüben wie drüben bewegen wir uns – und das rührt eben aus denselben Genen – in konzentrischen Kreisen. Einer dieser konzentrischen Kreise müsste neben der eigenen Identität, die niemand aufzugeben braucht, sicher auch der gesamttiroler Kreis sein. Gleich wie jeder ein Unterinntaler und ein Eisacktaler bleiben kann, kann er durchaus auch Nord-, Ost- und Südtiroler bleiben. Nur: Da gibt es etwas, das größer ist und jahrhundertelang die gemeinsame Geschichte geprägt hat. Und das heißt Tirol.
Gesamttirolisch werden wir dann, wenn wir verstehen, dass Tirol überall ist, es kein „bei uns in Tirol draußen“ gibt und es für Südtiroler beim Studieren in Innsbruck die gleichen Benimmregeln gibt wie für alle anderen Tiroler auch.
Gesamttirolisch werden wir dann, wenn wir verstehen, dass eine Europaregion nur als Worthülse nicht funktioniert, sondern eine Partnerschaft entstehen muss, aus der über freundschaftliche Beziehungen hinaus auch ein erweiterter wirtschaftlicher Horizont für beide entsteht. Nur der Umstand, dass kein Schlagbaum mehr da ist, fördert noch nicht den Austausch und die Beziehungen. Nordtirol hat mit Vorarlberg gleich viele und gleich wenige Beziehungen wie Südtirol mit dem Trentino. Obwohl da nie ein Grenzbaum war.
Gesamttirolisch werden wir also dann, wenn wir verstehen, dass ein fehlender Grenzbalken allein nichts zur Zusammenarbeit zwischen zwei Gebieten beiträgt. Wenn wir verstehen, dass wir täglich selbst etwas dazu beitragen müssen, dass man sich in der geistigen Welt des jeweils anderen zurechtfindet, und wenn wir verstehen, dass eine Partnerschaft nicht eine Gefälligkeit dem anderen gegenüber sein darf.
Gesamttirolisch werden wir, wenn wir die zarten Pflänzchen und gemeinsamen Bande, die es heute schon gibt, weiter ausbauen, fördern und als Vorbild nehmen. Etwa die endlich geglückte Zusammenarbeit der Haflingerzüchter, die vorzügliche Zusammenarbeit der Musikkapellen, wo alle Musikanten auch im Süden das österreichische Leistungsabzeichen machen, der Jugendmusizierwettbewerb „Prima la musica“, der Austausch der Bürgermeisterinnen, die sich periodisch treffen, die Chöre, die Südtirol schon seit langem bei ihren Treffen als 10. Bundesland entdeckt haben und immer mit einbeziehen – das sind Signale, die es aufzunehmen und auf andere Ebenen weiterzuentwickeln gilt.
Wenn wir verstehen, dass der Wunsch nach dem Herausstreichen der Gemeinsamkeiten nichts mit Revanchismus zu tun hat, sondern dass uns langfristig im großen Europa nichts Besseres passieren kann, als – und da hilft der Blick in den geschichtlichen Rückspiegel – eine über Jahrhunderte erprobte Zusammenarbeit in allen Lebensbereichen anzustreben, dann wären, dann sind wir auf dem richtigen Weg.
Wir Südtiroler müssen, wenn uns an einem Zusammenwachsen etwas liegt, zuerst die Realitäten im Bundesland Tirol und in Österreich insgesamt kennenlernen. Das verlangt zweifelsohne persönlichen Einsatz. Und ein Umdenken. Weil viel von dem, was wir uns nach Südtiroler Art wünschen, meist nicht so, aber oft sehr wohl anders möglich ist. 90 Jahre der Trennung haben vor allem Unwissenheit auf beiden Seiten hinterlassen, der man mit viel Idealismus entgegenwirken kann. Und wir müssen lernen, dass es vor allem an uns Südtirolern liegt, wenn sich an den derzeitig oft kritisierten mangelhaften Fortschritten in Sachen Landeseinheit etwas ändern soll. Nord- und Osttirol haben von sich aus nicht unbedingt ein Bedürfnis, etwas zu bewegen. Richtig transportiert, kann aber die Begeisterung für gemeinsame Projekte und letztendlich für die gemeinsame Sache auch in Nord- und Osttirol bisher ungeahnte Ausmaße annehmen.
Wir Nord- und Osttiroler müssen, wenn auch uns etwas am Wiederzusammenwachsen liegt, die besondere Situation einer Minderheit in einem fremden Staat berücksichtigen. Wir müssen akzeptieren, dass dieses Land nicht mehr jenes ist, das Österreich unrechtmäßig entrissen wurde. Wir müssen lernen, dass eine neue Form der Zusammenarbeit Stärken und Qualitäten freisetzt, die Tirol im Konkurrenzkampf der europäischen Regionen neu positioniert, mitten in Europa als Bindeglied zwischen dem Westen und Südosten, aber besonders auch in seiner historischen Position als Bindeglied zwischen dem Norden und Süden. Eine wirklich gelebte und mit Inhalten erfüllte Europaregion Tirol ist eine Win-win-Situation für Tirol und Europa. Ob jemals mehr daraus wird, liegt aber an den Südtirolern selbst. Wir in Österreich müssen dafür die Türen offen halten.
Wir alle sind Milser oder Vahrner, wir sind Tiroler, wir sind – zumindest im Herzen – Österreicher, wir sind Europäer. Nur wenn wir uns dieser Tatsache bewusst sind, dann hat die Zusammenarbeit zwischen den Tiroler Landesteilen, den Verbänden in den Tiroler Landesteilen und eben den Tiroler Gemeinden in Nord und Süd Sinn und Zukunft. In diesem Sinne lebe diese Zusammenarbeit, die Vorbildfunktion hat.